MusikLeben 2 - Keith Jarrett

Die Zeit, 20.9.2007, Nr 39
Interview von Konrad Heidkamp mit Keith Jarrett

 

»Du musst nicht gut finden, was du spielst«

Der Pianist Keith Jarrett spricht im Interview über die Bedeutung des Humors beim Improvisieren und über die Deutschen, die beim Hören zu viel denken und seine Wiederentdeckung der linken Hand

Wir sind in Nizza verabredet, wo Keith Jarrett während seiner Europatourneen wohnt und regeneriert. Und das ist die erste Überraschung: Nicht in eines der altehrwürdigen, ruhigen Hotels zieht er sich zurück, sondern in ein kühl modernes, mitten im Zentrum. Die zweite Überraschung: Eine Stunde vor dem Interviewtermin ruft sein Manager Steve Cloud an, das Interview sei gefährdet, Keith habe schwere Rückenprobleme und sei beim Physiotherapeuten. Zwei Stunden später, auf der Dachterrasse, wird Keith Jarretts Hotelwahl verständlich. Ein Swimmingpool, ein kleines Restaurant, Liegestühle dezent gruppiert und im Vordergrund ein strahlend blaues Meer. Verkehrsgeräusche dringen nach oben, Sirenen, Mopeds, Hupen – der Ort ist äußerlich abgeschieden und doch im Mittelpunkt. Steve Cloud bittet zu Tisch unterm Sonnenschirm, Rose Anne, Jarretts Frau, setzt sich zu uns, Keith werde bald kommen. Als er dann erscheint, wirkt er drahtig, perfekt gebräunt, lässt sich vorsichtig und mit geradem Rücken nieder. »Mein erstes Interview, das ich unter Schmerzen gebe«, erklärt er hinter verspiegelter Sonnenbrille – was fast ein bisschen wehleidig klingt.

DIE ZEIT:
Es ist schwer, in dieser Atmosphäre ernsthafte Fragen zu stellen. Man bekommt so ein Urlaubsgefühl.

Keith Jarrett:
So geht es mir hier ständig.

ZEIT:
Was macht Sie in Frankreich glücklich?

Jarrett:
Es gibt Länder, in denen zu viel über Kunst nachgedacht wird, Deutschland zum Beispiel. Anderswo wird zu wenig nachgedacht wie in den USA. Frankreich liegt auf dem silbernen Mittelweg, weil es in bestimmter Hinsicht sehr kompliziert ist und dann wieder sehr entspannt. Ich würde nicht sagen, dass ich hier glücklich bin, ich fühle mich wohl, weil weniger über Kunst nachgegrübelt wird.

ZEIT:
Auf Cover-Fotografien Ihrer Trio-CDs sind Sie im Gegensatz zu Ihren Solo-CDs gut gelaunt und lachen ungewöhnlich oft. Gibt es dafür einen Grund?

Jarrett:
Das Trio ist wie ein Mikroorganismus, ein eigenes Lebewesen. Mit einer Menge Humor. Überraschende Momente und Humor sind identisch. Ein guter Scherz ist immer eine Überraschung. Und wenn man improvisiert, wartet man darauf, überrascht zu werden. Humor liegt also im Wesen des Zusammenspiels.

ZEIT:
Bei Ihrem Triokonzert im Juli in Essen wirkten Sie sehr locker. Waren Sie da zufrieden?

Jarrett:
Wir versuchen immer gegen die Überorganisation einer Kultur anzuspielen, in der alles zu vergeistigt ist: Wie ist diese Note am Klavier zu verstehen, wie diese andere? Von dieser Haltung wollten wir das Publikum so weit wie möglich wegfüh-ren. Danach wählen wir auch die Stücke aus. Und die waren in Essen weitgehend funky. Der ernsthafte Künstler in mir ist sich sehr bewusst, warum wir etwas machen. Aber der Typ in mir, der lacht und es genießen will, freut sich, wenn die Musik so lebendig ist. Selbst in diesem steifen Rahmen.

ZEIT:
Sie haben in Essen in einer Philharmonie gespielt. Es wurden vor dem Konzert Hustenbonbons und Taschentücher verteilt, das Publikum wurde gebeten, keine Fotos zu machen. Ist da nicht ein gewisser Widerspruch zwischen dem Ursprung der Musik und der sehr gepflegten Atmosphäre klassischer Konzertsäle?

Jarrett:
Der Widerspruch besteht darin, wie wir präsentiert werden, und der Musik, die wir spielen. Aber dafür sind wir nicht verantwortlich. Ich würde die Ansage sicher beiläufiger halten. Aber wenn es zu beiläufig wird, geht man das Risiko ein, dass keiner zuhört.

ZEIT:
Auf Ihrer Europatournee haben Sie ein Konzert in Perugia vorzeitig abgebrochen. Warum?

Jarrett:
In Perugia wäre es egal gewesen, wer etwas sagt oder wie ernsthaft er es gesagt hätte: Es gab ein Gewitter aus Handy-Blitzen.

ZEIT:
Manche Stücke entwickeln ein Eigenleben im Konzert – wie Leonard Bernsteins Somewhere oder Thelonious Monks Straight No Chaser –, andere bleiben wunderschöne Melodien, ohne dass Sie darüber improvisieren. Wovon hängt das ab?

Jarrett:
Vom Augenblick. Vom Flügel, vom Klang, von den vibrations, von der Empfänglichkeit des Publikums. Ich kann nie sagen, ob ich mich auf der Bühne vor Publikum ausschließlich auf die Melodie konzentrieren kann. Manche Länder sind eher romantisch geprägt, in Italien etwa kommen Balladen am besten an, in Deutschland liebt man Straight No Chaser. Und in New York ist alles gemischt.

ZEIT:
Bei Straight No Chaser haben Sie kaum die Tasten berührt. Die rasend schnelle Improvisation wirkte abstrakt, fast wie eine Pantomime oder eine Hommage an den Free-Jazz-Pianisten Cecil Taylor.

Jarrett:
Sie denken zu viel. Wir hatten das Gefühl, dass an diesem Abend auf der musikalischen Palette noch etwas fehlte, dass etwas ergänzt werden musste, um eine Einheit zu schaffen. Das ist eine Sache von Professionalität. Und an einem Punkt hatte ich den – unausgesprochenen – Wunsch, etwas zu spielen, das die deutsche Tradition des Musikhörens aufgreift. Wir hatten den ganzen Abend versucht, gegen den Raum anzuspielen, aber Straight No Chaser war ein Titel, der in diesem Raum schon zu Hause war. Der Anfang des Konzerts war bewusst bluesy, sogar die Ballade hatte blue notes.
Wir konnten den Raum aus seiner örtlichen Bindung lösen. Darin liegt die große Kunst der Improvisation. Man kann aus dem Augenblick heraus einen Konzertsaal, der beispielsweise in Deutschland liegt, in ein anderes Land transportieren. Wenn aber schon vorher bekannt ist, welche Musik auf dem Programm steht, dann befinden Sie sich am Ende des Konzerts genau dort, wo Sie angefangen haben. In der Improvisation geht es aber um Kräfte. Kräfte, die in komponierter Musik nicht vorhanden sind. Bei der weiß man, was einen erwartet. Man geht in ein Konzert, weil man Stockhausen oder Schönberg hören will.

ZEIT:
Entscheiden Sie über die Auswahl der Stücke, wenn Sie den Raum sehen, oder je nach Reaktion des Publikums?

Jarrett:
In Essen wirkte der Raum sehr streng. Ohne Publikum fühlt man das besser. Aber während des Konzerts hat sich das verändert. Das Publikum hat seinen Teil beigetragen. In der Schweiz oder in Deutschland warten die Leute auf die freien Improvisationen. In Essen habe ich das erste Mal von Anfang an dagegen angespielt, mit einer alten Miles-Davis-Nummer, langsam und groovy, dann mit einer Paul-Desmond-Ballade und so weiter. Aber das lässt sich nicht übertragen, genauso wie man Wein nicht verschicken sollte. Musiker, die nicht improvisieren, machen sich über so etwas keine Gedanken. Wenn man improvisiert, hat man nur sein Werkzeug, aber kein Material.

ZEIT:
Haben Sie jemals daran gedacht, wieder in Clubs oder kleineren Räumen zu spielen?

Jarrett:
Nein. Zum einen würden zu viele Leute kommen, und wir müssten dann öfter spielen, drei oder vier Sets. Und vergessen Sie nicht: Wir werden älter. Mit meinem Rücken könnte ich heute Abend unmöglich spielen.

ZEIT:
Sie haben einmal gesagt: »Die einzige Beschränkung meiner Musik liegt in den Grenzen meines Körpers.« Sie wirken gesünder als je zuvor.

Jarrett:
Die Sache mit dem Rücken ist neu. Wahrscheinlich ist die Tour zu anstrengend – zu viele seltsame Reisen. Aber der Satz gilt unvermindert.

ZEIT:
Mit dem Trio spielen Sie vorwiegend Standards. Warum?

Jarrett:
Standards leben. Ich kenne keine Musik, die so lebendig geblieben ist. Wenn ich Balladen spiele, habe ich oft den Text im Kopf, und ich spiele die Stimmung des Textes. Besonders wenn ich ganz nahe an der Melodie bleibe. Ich will keinen Geschichtsunterricht geben, auch auf die Verbindungen innerhalb des Jazz hinweisen, indem ich Bebop-Phrasen verwende oder im Stil der Alten spiele. Ich muss nicht beweisen, dass ich unverwechselbar bin. Jeder ist einzigartig.

ZEIT:
Als Sie vor 25 Jahren begannen, mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette Standards zu spielen, war das fast konservativ revolutionär.

Jarrett:
Wir gingen von der Überlegung aus, dass es im Jazz nie um das Material geht, sondern um die Art, wie du spielst. Das Beste war: Wir mussten nicht groß üben, weil wir uns verstehen, es ist eine ständige Interaktion. Ich werde oft gefragt, warum wir nicht im Quartett spielen. Aber das würde bedeuten, dass immer einer untätig herumsteht und wartet. Ich will das nicht mehr. Manchmal überlege ich mir, ob ich einen Bläser dazuhole, aber ich habe noch keinen gehört, der ernsthaft infrage käme. Ich habe keine Zeit, jemand zu erklären, wie wir spielen. Es hat 25 Jahre gedauert, dort hinzukommen, wo wir heute stehen, und ich habe nicht noch einmal 25 Jahre Zeit.

ZEIT:
Haben Sie schon mal überlegt, wieder mit Jan Garbarek zusammenzuspielen?

Jarrett:
Nachgedacht habe ich darüber, aber ich glaube nicht, dass er Interesse hätte. Außerdem hat sich sein Klang verändert. Jan hatte immer Angst, bei freien Improvisationen seine Identität zu verlieren. Er hat sich mehr an Norwegen orientiert, an einem Klang, der ihm näher stand. An einem Abend in New York spielte er ein unglaubliches Solo, und als wir uns später die Aufnahme in der Küche des Village Vanguard anhörten, war Jan völlig deprimiert. Als ich ihn fragte, was er schlecht daran finde, wusste er es nicht. Ich denke, es war ein Identitätsproblem.

ZEIT:
In unserem Gespräch 1999, kurz vor Ihrer Genesung vom Burn-out-Syndrom, hatten Sie erklärt, dass Sie niemals mehr Solokonzerte geben wollten. Jetzt spielen Sie wieder und haben mit dem Carnegie Hall Concert eines Ihrer großartigsten Konzerte veröffentlicht. Was hat Sie umgestimmt?

Jarrett:
Das ist kompliziert. Als ich mir während der Krankheit einige meiner Solokonzerte anhörte, dachte ich: O nein! Manches mochte ich, anderes weniger, aber vor allem hatte ich das Gefühl, dass ich nicht mehr derselbe Mensch bin. Und dann fiel mir auf, dass ich früher fast nie mit der linken Hand gespielt hatte.

ZEIT:
Sie haben eine neue Form für Ihre Solokonzerte gefunden. Sie verbinden die einzelnen Teile nicht mehr, sondern lassen eine Pause zwischen den »musikalischen Räumen«. Gibt es für Sie einen inneren Zusammenhang?

Jarrett:
Das müssen Sie selbst herausfinden, aber ich denke, es gibt eine Verbindung. Wenn Sie in einem erstklassigen Restaurant ein Menü essen, werden Sie feststellen, dass die einzelnen Gänge aufeinander abgestimmt sind. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Beim Carnegie Hall Concert hatte ich die zweite Hälfte beendet, ging von der Bühne und überlegte, was ich als Zugabe spielen sollte. Und plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich das Konzert nicht zu Ende gespielt hatte. Also wurde die erste Zugabe zum letzten Stück des Konzerts und nicht zur ersten Zugabe. Später wusste ich nicht, wie ich diesen Teil nennen sollte. Ich wollte ihm nicht einen Titel wie den anderen Improvisationen geben, etwa 2A, dazu war das Gefühl zu greifbar. Ich nannte es The Good America. Das ist nicht politisch gemeint, hat nichts mit Patriotismus zu tun, nichts mit Stolz, enthält auch keine Anklänge an Nationalhymnen. Für mich hat es eher diese Fülle, die es wie einen Standard klingen lässt. Oder einen Hymnus, ein Kirchenlied. In Amerika fragt man mich oft nach dem Hintergrund des Titels.

ZEIT:
Ich frage Sie jetzt nicht nach Ihrer Meinung zu George W. Bush.

Jarrett:
Danke. Sehr freundlich. Man kann es auch so sehen: Das Carnegie-Hall-Conzert zielte darauf hin, das Stück zu improvisieren. Ein Solokonzert ist wie selbst auferlegte Isolation. Als säße man im Gefängnis in Einzelhaft und suchte einen Weg heraus – dieses letzte Stück war der Weg, aus dem Konzert herauszufinden und nach Hause zu kommen.

ZEIT:
Sie haben einmal erklärt, dass es etwas Größeres geben müsse als die eigenen Ideen, um ein Solokonzert durchzustehen. Meinten Sie das metaphysisch?

Jarrett:
Damals war es vermutlich metaphysisch gemeint. Heute fällt mir dazu eher meine linke Hand ein. (lacht herzhaft)
Meine Linke weiß besser als ich, wie man spielt. Seit Radiance hat sich etwas verändert. Wir nehmen die Improvisation als Fluss wahr, aber eigentlich besteht sie aus rasend schnellen Informationen, Impulsen, fast digital. Mir ist aufgefallen, dass ich beim Spielen in letzter Zeit öfter unwillkürlich blinzle, statt meine Hände zu beobachten. Dieses Blinzeln ist ein Weg, die Realität in Scheiben zu schneiden. Das macht den Fluss weniger sichtbar, denn ich sehe nichts genau. Wenn ich meine linke Hand beobachte, stelle ich fest, dass sie Dinge macht, die ich nie komponieren würde oder nie bewusst spielen könnte.

ZEIT:
Also hat Sie Ihre linke Hand gerettet?

Jarrett:
Wiedergeboren. Wiedergeboren durch meine Linke.

ZEIT:
Sie haben einmal gesagt, dass Sie bewusst kleine Störungen herstellen, um beim Improvisieren einen gewissen Automatismus zu verhindern. Zählt Ihre linke Hand dazu?

Jarrett:
Ich lasse meine Linke machen, was sie will, und es ist mir völlig egal, wie das klingt – auf Radiance und im Carnegie Hall Concert ist das ein paar Mal passiert – ich sage mir einfach, dass ich alle Sounds liebe. Ich will nicht ständig in gut und schlecht einteilen. Auch was abstrakt klingt, gehört zum verbindenden Gewebe solcher »Störungen«. Ich würde das nie absichtlich machen, ich staune selbst darüber. Der große Luxus am Improvisieren ist – und jeder Improvisator weiß das –, dass du das, was du spielst, nicht gut finden musst. Wenn ein junger Pianist zu mir kommt, mir etwas vorspielt und nicht so recht damit zufrieden ist, dann erkläre ich ihm, dass er das Gespielte nicht genügend hasst. Man muss davon besessen sein, etwas zu spielen, was man bisher nicht gehört hat, was man nicht erwartet hat. Das kann dann sehr schlecht sein – oder viel besser als alles, was man sich je hätte vorstellen können. Improvisieren ist ein Luxus und zugleich ein Fluch. Ein Fluch, weil es sofort verschwindet und nichts notiert ist.

ZEIT:
Dem Fluch entgehen die meisten, indem sie alles aufnehmen. Wenn Sie vorher wissen, dass ein Konzert nicht aufgezeichnet wird, fühlen Sie sich dann befreit?

Jarrett:
Ja. Das Ganze ist wertvoller, weil man etwas mit den Menschen teilt, die im Raum sind. Außerdem ist man nicht so verkrampft. Ich spiele dann, wozu ich Lust habe, und plane nichts.

ZEIT:
Wenn Sie unter Ihren eigenen Platten Ihre Lieblingsalben nennen, dann sind darunter hauptsächlich Alben, auf denen Sie nicht Klavier spielen. Auf Hymns/Sphere spielen Sie Orgel, auf Book Of Ways Clavichord, auf Spirits verschiedenste Instrumente. Trauen Sie dem Klavier nicht?

Jarrett:
Seit ich als Pianist besser geworden bin, verspüre ich nicht mehr das Bedürfnis, mich durch andere Instrumente auszudrücken. Melodien spiele ich vermutlich besser als jeder andere im Jazz – meine Mozart-Aufnahmen, vor allem die Adagios, waren da sicher sehr hilfreich. Mir genügt es jetzt vollkommen, wenn ich gut Klavier spiele.

ZEIT:
Als Sie krank waren, wurde Musik für Sie immer unwichtiger. Fanden Sie das beängstigend?

Jarrett:
Ja, aber wenn man ernsthaft krank ist, fällt es schwer, sich über so etwas aufzuregen. Ich hatte nicht mal die Energie, zu erschrecken. Wenn ich ein Buch lesen wollte, war es mir schon zu mühsam, die Seiten umzublättern.

ZEIT:
Dann ist Musik kein Trost im Schmerz?

Jarrett:
Wenn es einem sehr schlecht geht, kann Musik nichts ersetzen. Sie kann sogar das Gegenteil bewirken. Wie Rilke sagte: Musik erhebe ihn und lasse ihn anschließend tiefer fallen als zuvor.

ZEIT:
Ich dachte immer, Kunst sei größer als das Leben.

Jarrett:
Stimmt vermutlich nicht! (lacht)
Ich dachte das auch mal. Musik mag größer sein als das Leben. Aber wenn das Stück zu Ende ist, kommt das Leben zurück.

Das Gespräch führte Konrad Heidkamp

 

 




Die Zeit, 25.11.1999, Nr 48
Interview von Konrad Heidkamp mit Keith Jarrett

 

Das Klavier singt doch

Der Jazz-Pianist Keith Jarrett blickt zurück. In einem seiner seltenen Interviews spricht er mit ZEIT-Redakteur Konrad Heidkamp über seine rätselhafte Krankheit, Mozart und die Zukunft der Ekstase

DIE ZEIT:
Seit Ende 1996 haben Sie Ihre Konzertauftritte drastisch eingeschränkt und keine Jazzaufnahmen eingespielt. Bedeutet Ihr Soloalbum The Melody At Night, With You nun einen Neubeginn, oder ist es ein Rückblick auf die letzten drei Jahre?

KEITH JARRETT:
Die Musik dieser CD entstand in meinem kleinen Privatstudio. Ich war allein, ohne Toningenieur. Die Stücke waren als Weihnachtsgeschenk für meine Frau geplant. An eine Veröffentlichung dachte ich überhaupt nicht. Der Flügel sollte überarbeitet, die Hämmer mussten ausgewechselt werden. Als ich dann das Instrument testete, stellte ich ab und zu die Mikrofone an. Virtuos konnte ich nicht spielen, dazu war ich zu krank, ich schuf aber diese entspannte Nocturne -Stimmung, sodass ich mich schließlich entschloss, die Mikrofone immer einzuschalten. Ich fühlte mich ziemlich schwach, deshalb dauerten die "Aufnahmen" ein paar Wochen, bis ich etwa 40 Stücke zusammenhatte. Daraus wählte ich dann die besten aus.

JARRETT:
Ich wollte mich ausschließlich auf die Melodien konzentrieren. Ich bin sicher, viele Jazzkritiker werden diese Aufnahmen langweilig finden: Harmonisch passiert da ja überhaupt nichts. Aber wenn du deine Aufmerksamkeit auf die Melodie richtest, erübrigen sich die harmonischen Geläufigkeiten ohnehin von selbst. Wenn ich also merkte, dass ich komplizierter werde, habe ich sofort aufgehört. Mir ging es darum, mit dem Flügel die Stimme zu imitieren. Das ist unglaublich schwer, denn das Klavier singt nicht. Es macht nur: Boing! Man kann sich zwar bemühen, es zum Singen zu bringen, aber es bleibt immer begrenzter als die Stimme.

ZEIT:
Sie leiden an einer Krankheit, die sich Chronisches Erschöpfungssyndrom nennt, einer Krankheit, die dem Betroffenen selbst alltägliche Verrichtungen unendlich schwer macht, die alle Energie verbraucht. Ist diese Krankheit organisch oder psychisch bedingt?

JARRETT:
Es gibt viele Theorien dazu. Aber keine ist bewiesen. Und keine davon verspricht, die Krankheit zu heilen. Außer der Methode, die ich jetzt verfolge. Aber ich zweifle auch daran, bis ich den Erfolg sehe. Die Krankheit erstreckt sich auf alle Bereiche: mental, physisch, das Nervensystem, die Muskeln, Augen, Haut ... Was mir am schwersten fällt, ist Sprechen. Schwerer als Klavierspielen, schwerer als Gehen. Inzwischen ist alles anders. Als ich mich das erste Mal nach Ausbruch der Krankheit ans Klavier setzte, konnte ich keine Verbindung zwischen Kopf und Händen herstellen. Ich war unfähig, Entscheidungen zu treffen.

ZEIT:
Es ist bekannt, dass Sie vor Ihren Solokonzerten versuchen, absolute Leere in sich zu erzeugen, um aus dem Augenblick heraus zu spielen. Kann Ihre Krankheit auch durch diese extremen Belastungen ausgelöst worden sein?

JARRETT:
Keine Ahnung, wie stark das durchschlug. Bei vielen Betroffenen, mit denen ich gesprochen habe, gab es ähnliche Ausgangslagen: Sie waren hyperaktiv, hatten fünf Jobs, sechs Kinder, jede Menge Stress, und plötzlich bekamen sie eine Infektion. Niemand, der ständig vor dem Fernsehapparat hängt, hat diese Krankheit jemals bekommen. Ich war dafür berühmt, mich zum Äußersten zu zwingen. Ein Teil meines Publikums kam vor allem, weil es diesen hohen Anspruch erwartete. Sogar wenn ich versagte, hatte ich alles gegeben. So gesehen, bezahle ich jetzt dafür. Meine Solokonzerte waren einfach verrückt. Es ist, als ob man aus sich heraustritt und sämtliche Organe sich verabschieden. Das würde ich wahrscheinlich nicht noch einmal machen. Ich glaube es nicht.

JARRETT:
Vielleicht. Ich hatte meinen Studenten immer gesagt: Spielt, als wäre es das letzte Mal. Als ich dann vor drei Jahren krank wurde, hatte ich wirklich das Gefühl, das letzte Mal zu spielen. Es war, als ob jemand einen Knopf drückt und dein Leben auf null zurückspringt. Und alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass es dort bleiben wird. Während dieser langen Pause hörte ich mir meine alten Aufnahmen an, und vieles davon gefiel mir überhaupt nicht mehr. Warum hab ich das gemacht, warum zum Teufel hab ich diese Note gespielt? Warum ist diese Einleitung so lang? Ist das alles, was ich der Welt hinterlasse? Aber, um zum Positiven zu kommen: Wenn ich jetzt spiele, will ich keine Zeit vergeuden oder meine Kraft an irgendeine Note verschwenden, denn meine Energien sind begrenzt. Man kann mit sehr wenig Noten wunderbare Musik machen. Bevor ich krank wurde, spielte ich, als wäre ich verzweifelt. Aber wenn es dein letzter Tanz ist, dann willst du einfach, dass es dein schönster wird. Das ist keine Verzweiflung, sondern irgendwie: Wundervoll, ich habe noch eine Chance. Eine mehr, als ich dachte.

ZEIT:
Sie wechselten in den letzten fünfzehn Jahren zwischen Solokonzerten, klassischer Musik und den Standardinterpretationen. Für wen sind Grenzwechsel schwieriger, für den Jazzmusiker oder den klassisch ausgebildeten Interpreten?

JARRETT:
Ich denke, für einen Jazzmusiker ist es einfacher, klassische Musik - schlecht - zu interpretieren, als für einen klassischen Musiker - überhaupt irgendeine Form von - Jazz zu spielen. Aber beides ist gefährlich. Friedrich Gulda ist ein gutes Beispiel, und es gibt andere waghalsige Fälle von cross over. Immerhin ist sich Friedrich dessen bewusst -, und er liebt den Jazz. Die Ergebnisse sind allerdings eine andere Sache. Aber natürlich denken die Leute dasselbe über meine Interpretationen klassischer Musik.

ZEIT:
Können Sie sich vorstellen, ohne Musik zu leben?

JARRETT:
Während der ersten eineinhalb Jahre meiner Krankheit konnte ich es mir gut vorstellen. Ich hatte nicht einmal Lust, Musik zu hören, eine Zeit lang hasste ich sie förmlich. Obwohl "hassen"nicht der richtige Audruck ist. Ich fragte mich: Was ist das? Mein ganzes Leben hatte ich Musik gespielt. Und jetzt wusste ich nicht einmal, was das ist - Musik? Es ist nicht so schwer, auf Musik zu verzichten. Wenn sie weg ist, ist sie eben weg. Bye bye! John Cage spielte Klavier, bekam dann Athritis, hörte auf, wurde Schriftsteller, schließlich komponierte er seine Philosophie.

ZEIT:
Sie könnten sich darauf konzentrieren zu komponieren.

JARRETT:
Mit dieser Krankheit kann man nicht kreativ sein. Man kann nicht einfach seinen Willen dazu benützen und etwas erzwingen. In Amerika sagt man: Get over it. Try harder. Das funktioniert oft. In diesem Fall aber frisst die Krankheit genau die Energie, die du dir wünschst. Es sind parasitäre Bakterien.

ZEIT:
Auf Ihrer neuen CD spielen Sie wieder Standards. Während sich im Jazz eine erhebliche Erweiterung des Repertoires feststellen lässt, ob durch Klezmer oder Soundtracks, klassische Musik oder Weltmusik, beschränken Sie sich seit 15 Jahren auf Standards aus den dreißiger und vierziger Jahren. Warum?

JARRETT:
Warum nicht? Einen klassischen indischen Musiker würden Sie doch auch nicht fragen, warum er immer Ragas spielt. Oder nehmen Sie Mozart! "Warum klingen Ihre Lieder immer so ähnlich, Wolfgang? Immer diese Skalen! Man könnte doch mehr auf dem Flügel ausprobieren als immer nur diese Mittellagen!" Standards sind die beste Musik Amerikas, und sie sind in einer Sprache komponiert, die wir alle kennen und durch die wir uns ausdrücken können. Und das machen Jazzmusiker ihr Leben lang.

JARRETT:
Ich kann mich nicht entsinnen, dass mich irgendein Popsong berührt hat seit ... ich führe kein Tagebuch darüber. Wenn ich irgendetwas höre, das ich mag, und sei es gestern geschrieben, würde ich es sofort verwenden. Aber wenn Sie in einem Konzert einen Standard aus der vierziger Jahren nehmen und danach ein Ornette-Coleman-Stück oder eines von Cyndi Lauper, dann verlieren Sie Ihre Sprache. Im Bebop spielt man als Pianist ganz bestimmte Figuren mit der linken Hand, wenn man dann zu einem Standard wechselt - das ist schwierig. Weil ich plötzlich daran denken muss, meine linke Hand umzustellen. Und eigentlich wollte ich mich doch mehr und mehr in die Sprache versenken, in der ich das Konzert begonnen hatte.

ZEIT:
Heißt das, Sie passen Ihre Sprache immer dem jeweiligen Material an und verfügen über keine eigene Sprache?

JARRETT:
Hatte Miles Davis eine eigene Sprache? Er hatte seinen eigenen Sound. Die Texturen der Songs überließ er seiner Band. Sie befreite ihn davon. Also konnte er darüber improvisieren. Außerdem wollte Miles hip sein. Mir ist es egal, ob mich jemand für hip hält.

ZEIT:
War es Ihnen nie wichtig, hip zu sein, auch nicht in Ihrer Jugend? Ich denke dabei an die Zeit, als Sie bei Charles Lloyd spielten, an die Platten mit den psychedelischen Covern.

JARRETT:
Nein, das war nicht hip, das war dämlich. Und schlechter Geschmack außerdem. Sicher, als ich jung war, fand ich alles aufregend, auch Kleidung. Charles wollte uns immer in einem bestimmten Outfit sehen. Einmal schickte er uns sogar ins Hotelzimmer zurück, weil wir die falschen Klamotten anhatten. Ich finde: Man kann nach innen hip sein oder nach außen. Standards sind große amerikanische Popmusik. Besser als Pop. Wir leben diese Musik, die andere lässt mich kalt.

ZEIT:
Sie hatten sich vor ein paar Jahren öffentlich mit Wynton Marsalis, seinem Musik-Kanon und den Traditionalisten seiner "Jazz-Schule" angelegt. Hat sich inzwischen etwas an Ihrer Position verändert?

JARRETT:
Wynton Marsalis spielt noch immer den großen Lehrer. Diese Schulsituation wird immer dominierender. Ich habe nichts gegen Traditionalismus als Kategorie. Was aber Marsalis in die Welt gesetzt hat, ist das Gegenteil von Jazz. Er belehrt die Welt darüber, was Jazz zu sein hat. Und der normale Leser und Hörer weiß es nicht besser. Außerdem kann man nicht gleichzeitig Lehrer und Musiker sein. Wenn du Lehrer bist, musst du das vormachen und nachahmen, was andere vor dir gespielt haben. Und wenn du das tust, verlierst du die Beziehung zu deiner eigenen Musik.

ZEIT:
Gab es für Sie Vorbilder, denen Sie nacheifern wollten?

JARRETT:
Als ich 14 oder 15 war, kam zum ersten Mal ein Weltklassepianist nach Allentown, meiner Geburtsstadt - Dave Brubeck. Ich erinnere mich noch, wie ich dachte: Das kann es nicht gewesen sein. Als mir später jemand in Berkeley sagte, dass ich wie Oscar Peterson klinge - ich mochte seine Musik, wusste aber auch, dass sie nichts mit mir zu tun hatte -, war mir klar, dass ich niemanden imitieren wollte. Jemand anderes sagte mir in Berkeley, ich hätte wohl viel Bill Evans gehört. Und ich fragte zurück: Bill, wer?

ZEIT:
Und wann waren Sie sicher, Ihren eigenen Klang gefunden zu haben?

JARRETT:
Gegen Ende der sechziger Jahre trat ich in Brüssel auf, mit dem französischen Schlagzeuger Aldo Romano. Zwischen dem ersten und zweiten Set hatte ich eine Art Erleuchtung. Ich weiß noch, wie ich zu mir sagte: Es ist vorbei, du musst nicht mehr nach deinem Klang suchen, geh raus und spiele ... und das war's. Beim letzten Schritt wirfst du alles ab. Was übrig bleibt, das bist du - in jeder Beziehung.

ZEIT:
Das "Jahrhundert des Jazz" geht zu Ende, und die Nachrufe häufen sich. Sie als den weltweit populärsten lebenden Jazzmusiker gefragt: Sehen Sie einen Musiker, der Sie hoffen lässt?

JARRETT:
Nein, im Moment nicht. Ich neige dazu, bei diesem Thema philosophisch zu werden. Es ist unmöglich, die Musik frisch und gesund zu erhalten, wenn die Welt auf so vielen Ebenen zerstört wird. Junge Musiker hören zu viel Musik, sie halten den Ersatz für das Original, können nicht zwischen gut und schlecht unterscheiden. Wenn es darum geht, berühmt zu werden, braucht man nur einen Manager, der einem sagt, was man tun und lassen muss. Das ist alles. Als ich nach New York kam, hatte ich keinen Job. Aber ich wollte auch keinen, solange er nicht etwas mit wirklicher Musik zu tun hatte. Ich hätte auf Hochzeiten spielen können, ich kannte die Songs, es war kein Problem ... Als ich schließlich meine ersten Platten aufgenommen hatte, verschaffte mir mein erster Manager George Avakian ein Engagement in einem Club in Cincinnati. Er beschrieb mir den Club und ich sagte: "Nein." Ich kenne viele berühmte Künstler, die nicht nein sagen können. Wenn dir jemand sagt, du müsstest zu einer bestimmten Fotosession bestimmte Kleider anziehen, kann man nein sagen. Ganz einfach. Man muss sich nur daran erinnern, wozu man da ist. Ich bin nicht da, um bestimmte Kleidungsstücke zu tragen, sondern um Musik zu spielen.

ZEIT:
Waren Sie nie in der Situation, sich unter Wert verkaufen zu müssen?

JARRETT:
Natürlich trifft man als junger Musiker Arschgeigen, die nichts von Musik verstehen und keine Ahnung haben, was man macht. Als ich bei Columbia war, ging ich zum künstlerischen Leiter, er begrüßte mich: "Kommen Sie rein, Mr. Jarrett!" Wir setzten uns. Er sagt: "Na, was machen Sie denn?" - "Ich spiele Klavier", sagte ich. Darauf er: "Oh, wie schön!" Man kennt diese Leute nicht und weiß doch schon vorher, sie verkörpern genau den Typ, zu dem man nein sagen muss. Die idealen Menschen zum Neinsagen.

ZEIT:
Der Dirigent Sergiu Celibidache hat zu
Schallplatten und CDs grundsätzlich nein gesagt. Welche Bedeutung haben Aufnahmen für Sie?

JARRETT:
Verglichen mit dem, was man im Konzert spielt, sind sie wie Postkarten. Musik, die live im Raum entsteht, lässt sich durch nichts ersetzen. Aber gegenüber der klassischen Musik gibt es im Jazz doch einen Unterschied. Würden wir uns nicht eine Aufnahme wünschen, auf der Bach improvisiert? Der Moment des Improvisierens wird sich nie wiederholen. Das heißt, den Bereich der improvisierten Musik kann man kaum mit der Problematik notierter Musik vergleichen. Mozarts Klavierkonzerte sind dafür ein gutes Beispiel. Beim Spielen geben sie dem Pianisten alles. Aber wenn man nachträglich zuhört, lässt sich nur schwer sagen, was der Pianist für sich gewinnt, es sei denn, er übertreibt bestimmte Phrasen oder wählt bestimmte stilistische Eigenheiten, die den Eindruck vermitteln, man ahne, worum es geht.

ZEIT:
Ihre Aufnahmen mit klassischer Musik sind nicht unumstritten. Viele werfen Ihnen vor, sich zu sehr zurückzunehmen.

JARRETT:
Es ist nicht so, dass ich Mozart oder Bach nicht gerne getroffen hätte, aber als Improvisator geht es mir mehr darum, mich der Musik zu geben, als dass sich die Musik mir ergibt. Das bedeutet keine blinde Verehrung, aber man sollte kein größeres Instrumentarium mitbringen als nötig. Es wäre schön, wenn Mozart reinkäme und sagen würde: "Das ist gut, Sie haben das nicht übertrieben. Das ist in Ordnung." Ich will nicht, dass er sagt: "Genauso hatte ich mir das vorgestellt!" Keiner ist dazu fähig - nur Mozart. Wenn er heute lebte, würde er ohnehin Jazz spielen.

ZEIT:
Musiker und Kritiker haben immer wieder verkündet, dass das Ende einer gewissen Form der Kunst bevorstehe. Meistens haben sie sich getäuscht. Gibt es jetzt mehr Grund zum Pessimismus?

JARRETT:
Ich denke, die Qualitätmaßstäbe sind ständig gesunken, sie orientieren sich mehr am Markt als an dem Wert des Produkts. Das Bedürfnis lässt sich über die Werbung steuern, deshalb kann man die Qualität senken. Da wir in einer Welt leben, die so erfolgreich für sich selbst Reklame macht, brauchen wir auch keine Qualitätsprodukte mehr: Die Welt wirbt nur noch für sich selbst.

ZEIT:
Was Sie sagen, klingt ziemlich pessimistisch.

JARRETT:
Durch meine Krankheit bekam ich eine Vorstellung davon, wie bedeutungslos Musik eigentlich ist. Ich kann also mit Recht sagen, es ist nicht wichtig, ob sie an ihrem Ende angelangt ist. Musik ist da. Schön, wenn es damit weitergeht. Wenn nicht, dann nicht. Man kann sie nicht herbeizwingen. Das wäre unnatürlich. In gewisser Weise gibt es keine Zukunft, gab es nie eine Zukunft. Ich kann mir vorstellen, dass jemand nach Charlie Parker sagte: Wer kann jetzt noch wagen, Saxophon zu spielen? Und auf eine bestimmte Art hatte der Mann Recht. Vieles hat sich verändert: Heute sind die Musiker clean. Sie nehmen keine Drogen mehr. Haben eine sehr vernünftige Einstellung zu ihrem Leben und ihrer Musik gefunden, haben sich - zu sehr - unter Kontrolle. Doch in der Musik geht es vor allem um Ekstase. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, Sie hätten mich nach der Zukunft der Ekstase gefragt. Unsere Welt, die einmal in Weltanschauungen zerfiel, wird innerhalb der Industriestaaten immer gleichförmiger, warum sollte es mit der Musik anders sein?

ZEIT:
Wie sehen Sie denn Ihre eigene Musik in dieser Welt?

JARRETT:
Ich habe mir schon oft vorgestellt, nie wieder zu spielen. Es war okay. Jetzt wäre die Zeit für John Cage gekommen. Die Bühne betreten, den Flügel von der Bühne schieben, sich verneigen und sagen: Vielen Dank.

ZEIT:
Gibt es keinen Hoffnungsschimmer?

JARRETT:
Es gibt wunderbare afrikanische Musik, großartige indische Musik, kubanische Musik, die aber jetzt zum Produkt geworden ist, das plötzlich jeder schon immer kannte. Aber im Jazz? Der Tenorsaxophonist Branford Marsalis, der bedeutend talentierter ist als sein Bruder Wynton, sollte mit seiner Band für die Tonight Show verpflichtet werden. Hier in den USA wurde das groß gehandelt: Endlich hat es der Jazz im Fernsehen geschafft. Ich schrieb dazu einen Artikel, in dem ich das Ganze in Frage stellte. Wie kann so etwas gut für den Jazz sein? Zwischen Werbeblöcken eine Minute spielen und dann - stopp! Man sollte die jungen Musiker vor den Medien retten.

ZEIT:
Von vielen Kritikern - auch denen, die Ihre Musik lieben - wird oft Ihr unnahbares und gottähnliches Selbstbewusstsein kritisiert. Können Sie das nachvollziehen?

JARRETT:
Ich muss einräumen, dass ich den einen oder anderen spirituellen Pfad beschritten habe ... vielleicht liegt es daran. Zum anderen: Ich sage, wenn etwas gut ist - auch wenn es von mir stammt. Außerdem schrieb ich in den Plattentexten etwas über Gott ... und das macht die Menschen immer nervös. In den USA ist es einfacher, da liest keiner die liner notes. Kein Mensch fragt mich hier, was dieses oder jenes Gedicht bedeutet. Oder warum ich Rilke auswählte. Oder Bly. Man weiß hier nicht einmal, dass er Amerikaner ist.

ZEIT:
Meint das You im Titel Ihrer neuen CD mehr Ihre Frau oder den Flügel?

JARRETT:
Es meint beide. Meine erste Platte für ECM hieß ja auch Facing You. Es ist ein koffeinfreies Album, man sollte es nachts hören, es ist stressfrei. Im Konzert lässt sich diese Musik nicht wiederholen. Ich spielte diese Songs sehr sanft. Im Konzertsaal muss man die leisen Stellen viel lauter spielen, damit die Dynamik stimmt, und damit verändert sich sofort der Klang. Ich habe die Klaviertasten im Studio mit einem Minimum an Kraft angeschlagen, sodass selbst die lauten Töne nicht perkussiv klangen. Normalerweise haben die Tasten einen Druckpunkt, man muss ihn wie eine Oberflächenspannung überwinden, um die Taste nach unten zu drücken. Bei diesem Flügel fehlt der Widerstand, und so kann ich die Melodien ganz sanft und ausdrucksvoll spielen.

ZEIT:
Wird es eine Fortsetzung von The Melody At Night, With You geben?

JARRETT:
Ich denke nicht. Vor etwa einem Monat ging ich wieder ins Studio und versuchte, diese ganz besondere Stimmung in meinem Kopf wiederzufinden, damit ich wieder so spielen konnte. Ich schaltete die Mikrofone ein - nichts. Ich fand dieses Gefühl nicht mehr. Diese Musik betraf eine sehr spezielle, kurze Zeit meines Lebens. Vielleicht muss das Wetter wieder schlechter werden. Kälter vielleicht, damit man gerne nach innen geht.

ZEIT:
Als Chet Baker 1988 in Amsterdam starb, war er im Hotel mit der Adresse Oklahoma City eingetragen. Er war zwar dort geboren, lebte aber nie dort. Gibt es in Ihrem Leben eine ähnliche home address?

JARRETT:
Hier im Nordosten, in New Jersey fühle ich mich zu Hause. Nicht im nahen Allentown, meiner Geburtsstadt, nicht im Nachbarort. Es ist die Landschaft. Aber es steckt noch mehr dahinter. Menschen, die dem Pfad folgen, auf dem ich mich befinde, sind dazu angehalten, sich ihrer selbst zu erinnern, der Essenz. Hinter den Verstand, den Gefühlen und Empfindungen jenen Platz zu finden und dort zu verweilen, während man seinen ganz normalen Alltag lebt. Es ist eine Art Meditation, die nur wenige mehr als zwei Sekunden schaffen. Aber selbst wenn es nur eine Sekunde gelingt - dort ist die wahre Heimat.

ZEIT:
Das klingt wieder sehr spirituell.

JARRETT:
Wahrscheinlich untermauert dies wieder mein gottähnliches Image. Ich glaube, ich schüchtere die Leute ein. Zuerst denken sie, es sei sehr schwierig, mit mir zu sprechen. Dann merken sie, dass das nicht stimmt. Dann glauben sie, ich hätte irgendwelche Geheimnisse, die ich nicht preisgeben möchte. Dabei habe ich nichts preiszugeben - außer meiner Musik.